„Nacht vorbei!“

Raffiniere in Gelsenkirchen
Dominic Schneider

Ich arbeite in Wechselschicht bei einem der größten Energieunternehmen der Welt in Gelsenkirchen, ehrenamtlich bin ich Bezirksbürgermeister im Gelsenkirchener Norden, dazu Familienvater.

Zum Anfang ein kurzer Umriss meiner Tätigkeit. Am Standort Gelsenkirchen produzieren wir 365 Tage oder 8.760 Stunden im Jahr Produkte für die Chemische Industrie und damit für den täglichen Bedarf. Zusätzlich sind wir für die Versorgung des Ruhrgebiets, Nordrhein-Westfalens, Teilen von Westeuropa und im Winter von Teilen des Ostens der Vereinigten Staaten von Amerika mit Treibstoffen jeder Art verantwortlich.

Meine Nachtschicht beginnt um 22 Uhr. Davor muss ich meine persönliche Schutzausrüstung anziehen. Das sind Sicherheitsschuhe, feuerfeste Jacke und Hose sowie Helm und Schutzbrille. Zusätzlich habe ich Handschuhe und Gehörschutz für den Lärmbereich. Am Eingang zur Kaue warte ich auf meine Kollegen. Wir halten noch einen kleinen Schwatz und fahren dann gemeinsam zur Ablöse der Mittagschicht.

In der Ablöse werden wir über den aktuell Stand der Anlagen informiert sowie über Arbeiten und Reparaturen, die durchgeführt wurden oder anstehen. Im Anschluss werden Informationen gesammelt über das Rapportsystem und sonstige Medien, die uns und den Kollegen in der Messwarte zur Verfügung stehen, um abzuschätzen, welche Arbeiten neben den routinemäßigen Aufgaben anfallen.

Bis zur Schichtbesprechung bleibt Zeit für das Wichtigste: KAFFEE und das persönliche Gespräch. Der eine Kollege klagt, dass er nach der gestrigen Nachtschicht kaum richtig schlafen konnte, weil sich vor seinem Haus eine Baustelle befindet. Das andere Thema ist natürlich: Schalke. Dazwischen sprechen wir über familiäre Sachen.

Zur Schichtbesprechung fahren wir zum Meisterbüro. Dort reden wir über die Anliegenden arbeiten. Diese Schicht könnte es ruhig werden. Neben den routinemäßigen Kontrollen müssen nur zwei Proben gezogen werden. Wir besprechen noch das aktuelle Sicherheitsthema und zwei, drei weitere betriebliche Sachen, bevor wir kurz zum nächsten Spieltag der Schalker kommen.

Im Anschluss begeben wir uns auf die erste Runde durch unseren Betrieb. Wer jetzt meint, es wären schon zwei Stunden ins Land gezogen, der irrt sich. Wir haben 22:45 Uhr. Mit dem Werkswagen geht es in die weite Fläche des Betriebs mit Tanklagern und Pipelines. Wir steuern das erste Tanklager an. Während die Kollegin die Pumpen kontrolliert, mache ich eine Fußrunde durch das Tankfeld. Wir kontrollieren, ob alles dicht ist, genügend Öl in den Pumpen ist, die „Wege“ richtig stehen.

Auf dem Weg zur nächsten Station erzählt mir meine Kollegin, dass ihre Tochter morgen ein Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungsplatz hat. Sie ist selbst nervös und denkt, dass sie erst mittags schlafen wird, wenn die Tochter zurück ist vom Gespräch. Das ist unser Alltag. Jede Nacht sorgen wir für die Energiesicherheit, während andere schlafen, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen.

Nach und nach steuern wir die anderen Stationen an und führen unsere Kontrollen durch. Im Anschluss besorgen wir uns die Probenflaschen und Etiketten für die Probe. Da kommt ein Funkspruch. Auf einer Pipeline muss das Produkt gewechselt werden. Also packen wir alles ein und fahren die entsprechende Umstellung im Tankfeld an. Im Anschluss ziehen wir die Probe und bringe diese zur Analyse in das Labor.

Dominic-Schneider-Kollege
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Mittlerweile sind wir im neuen Tag angekommen. Wir haben 0:25 Uhr. Der Kaffee lässt langsam nach und auch der Nikotingehalt meiner Kollegin sinkt langsam. Wir fahren zu unserer Außenbude. Dort ziehen wir einen Kaffee und die Kollegin sucht zusätzlich den Raucherraum auf. In der Zwischenzeit notiere ich unsere Tätigkeiten und Beobachtungen im Rapportsystem. Der Kaffee tut jetzt richtig gut. Im Anschluss gucke ich noch in das Intranet, um mich zu informieren, was es in der großen Konzernwelt Neues gibt.

Ich merke, der eine Kaffee reicht nicht. Ich hole mir einen weiteren. In der Kaffeeküche treffe ich meinen Kollegen wieder. Wir unterhalten uns über eine Reparatur, die am nächsten Morgen ansteht. Dazu gehen wir gemeinsam den Plan durch, welche Wege gestellt werden müssen etc.. Das alles um 2 Uhr. Ich denke an meine Familie, die jetzt im Bett liegt. Ich mache mir aber auch Gedanken, was nachher noch für mich anstehen wird. Einkaufen, Telefonat mit der Verwaltung, Hausaufgaben. Das wird wohl eine kurze „Nacht“ für mich nach der Schicht.

Bis zum Schichtende um 6 Uhr haben wir noch zwei weitere Kontrollrunden. Dazwischen bittet uns der Schichtmeister zu einem Gespräch in die Messwarte. Es geht um neue Regularien zum Umgang mit der persönlichen Schutzausrüstung.

Das Schichtende naht. Gemeinsam überlegen wir, ob wir alles Wichtige im Rapport eingetragen haben und was wir der nächsten Schicht übergeben müssen. Die Frühschicht kommt.

Gemeinsam fahren wir zur Kaue, hier trennen sich unsere Wege für heute. Beim Verabschieden sagen wir „Schlaf gut“ um 6 Uhr morgens. Der Kollege muss lachen. „Ich hoffe, die arbeiten heute leise an der Baustelle. Aber bis 7:30 Uhr wird es schon gehen!“

Unter der Dusche treffe ich meine Kollegen aus den anderen Abteilungen und Anlagen von heute Nacht. Der eine Kollege, mit polnischen Wurzeln meint, „In Polen sagen wir: Morgens duscht du für den Chef und abends für den/die Partner:in: Für wen duschen wir?“ Wir alle müssen lachen. „Für uns!“ ruft ein anderer Kollege.

Das ist unser Leben: Während die Welt langsam in den Tag startet, gehen wir schlafen. Wir haben das System durch die Nacht gebracht. Jetzt müssen andere übernehmen.

Auf den Weg nach Hause muss ich noch den Auftrag meiner Frau erfüllen: frische Brötchen beim Bäcker holen.

Ich komme zeitgleich mit meiner Schwester am Haus an. Wir haben eine Art Mehrgenerationenhaus. Meine Eltern haben auch eine Wohnung hier. Meine Schwester arbeitet im Pflegedienst auf Wechselschicht. „Na, wie war deine Schicht?“ frage ich sie. „Frag nicht und ich darf nicht an nachher denken. Um 9 Uhr haben wir einen Termin beim Kinderarzt.“ sagt sie.

Meine Schwester ist alleinerziehend. Die Unterstützung des Kindsvater beschränkt sich auf das Finanzielle. Meine Nichte schläft dann bei meinen Eltern oder bei uns während der Nachtschicht.

Ich überlege kurz und sage „Ich fahre mit ihr zum Arzt. Ich hatte heute meine letzte Nachtschicht und kann später schlafen, leg du dich hin, du musst noch zwei!“ Die Erleichterung ist förmlich zu hören. Sie geht noch kurz zu meinen Eltern, die Kleine fertig machen. Ich gehe nach oben. Meine „Bande“ wartet auf das Frühstück.

Wir frühstücken zusammen und bereden kurz, was für heute ansteht. Ich sage meiner Frau, dass ich mit der Nichte zu Arzt fahre und danach dann schlafen gehe.
Sie packt die Kinder ein und fährt sie zur Schule und anschließend zu ihrer Arbeit.

Ich sitze um 7:30 Uhr am Tisch mit einem Kaffee und der Zeitung. Dazu überlege ich, ob ich vielleicht für 30 Minuten kurz die Augen zumache. Da schellt es. Mein Vater steht mit meiner Nichte vor der Tür. „Sie wollte zu dir wegen des Arztes.“. „Wir müssen gleich in die Stadt, sonst wären wir gefahren.“ sagt mein Vater. „Typisch Rentner!“, sage ich. „Immer einen vollen Terminplan.“. Er lacht: „Ich kenne das, habe selbst 25 Jahre Wechselschicht gemacht!“, antwortete er. Das war es dann mit dem Powernapping.

Wir frühstücken zusammen und meine Nichte erzählt mir, was so im Kindergarten los ist. Wir fahren mit dem Lastenrad zum Arzt. Darauf hat sie sich tierisch gefreut. Der Arzt sagt mir zwar, was er macht, aber richtig aufnahmefähig bin ich dafür nicht. Kurze Untersuchung, dann geht es nach Hause bzw. zur Kita.

Ich bringe meine Nichte zur Kita. Empfangen werde ich mit „Hallo Herr Schneider, heute frei?“. Wir kennen uns hier „Kann man so sagen, allerdings erst seit 6 Uhr.“ Die Erzieherin nimmt die Kleine in Empfang und wünscht mir eine gute Nacht. Wir haben 10 Uhr.

Ich fahre nach Hause und lege mich hin. Ein letzter Blick auf das Handy. „Nacht vorbei!“ schreibt mein Kollege. Die Nachricht kam um 8 Uhr.

Mehrere hunderttausend Menschen in Nordrhein-Westfalen arbeiten, wenn alle anderen schlafen. In der Nachtarbeit werden zentrale Aufgaben unserer Gesellschaft verrichtet. Sie fällt dort an, wo Menschen in Not sind, man sich um andere kümmert, die Produktion nicht stillstehen darf, Sicherheit organisiert oder für alle anderen der Start in den Tag vorbereitet wird.

Wir reden viel zu wenig über diese Arbeit und die Menschen, die sie verrichten. Das wollen wir ändern und schauen genauer hin: Hinter die Kulissen und in die Gesichter der Arbeit bei Nacht.

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Ein Projekt der SPD
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